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Förderpreisträger Literatur |
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Charlotte Warsen | GWK-Förderpreis
2016
*1984 in Recklinghausen, lebt in Berlin
2004-2010 Studium der Malerei an der Düsseldorfer Kunstakademie
und Amerikanistik an der Universität zu Köln | seit
2012 Promotion in Philosophie
www.charlottewarsen.de
Charlotte Warsens Seufzergruppen. Auszüge aus einem Klagegesang,
mit denen sie sich um den GWK-Förderpreis beworben hat, sind
anarchisch-assoziative und gewitzt-gelehrte, aggressiv-melancholische
und musikalische Texte, offene Sprachkunstspiele, in ihrer Art
einzig. Multimedial wollen sie rezipiert werden: still gelesen,
auf dem Papier gesehen, im Raum gesprochen oder gesungen und gehört.
Kein einfach-realistisches, dokumentarisches Abbild der Welt,
sind sie widerständig bis in die Abstraktion, ihre Sprache
wirkt verworren-dunkel bis abstrakt-hermetisch, zugleich hat sie
eine starke körperliche Präsenz und konkrete Bildlichkeit.
Die Texte entziehen sich dem gängigen Verstehen wie dem schnellen
Konsum, bei näherer Auseinandersetzung auch der landläufigen
Rubrizierung als Lyrik oder Prosa. Das Ich der "Seufzergruppen"
ist nicht als Person im psychologischen Sinn oder als landläufiges
lyrisches Ich' identifizierbar; eine changierende, dennoch
einheitliche, bisweilen bitter ironische Sprecherposition ist
jedoch auszumachen. Sie kann auf die Haltung der Negativität,
die Perspektive des Finsteren festgelegt werden und spiegelt sich
u.a. in der Variante eines Haltungstopos wider, der dem abendländischen
Melancholiedenken, der schwarzen Tradition' der Schwarzgalligen,
entstammt: "komm ich mir rettungslos / vornübergebeugt
vor". In gelehrten, mehr oder minder offensichtlichen Anspielungen
auf und Zitaten von u.a. Fourier, Adorno, Protagoras oder mit
der Bibel reflektiert Charlotte Warsen diese Negativität
versteckt als realitätsangemessen und dialektisch. Es geht
in ihrem "Klagegesang" ums Ganze: "immerhin, von
hier aus / ist die Erde ein Unding und nicht mehr / zu beantworten",
und: "im Prinzip", im Grundsätzlichen und von Grund
auf, "war ich hin". Und: "alle hier weigern sich,
wirklich zu lieben // so namentlich bei den Schlangen", "solange
wir / aber Schlangen sind ist / es Zivilisation". Doch es
bleibt nicht bei dieser Overall-Negation. Die "Seufzergrupppen"
arbeiten sich an Konkretem ab und begehren auf gegen dies "Unding"
Erde, das mitsamt seinen zahllosen Todesarten und seiner Zivilisation
zu verstehen, die Autor-Position sich weigert. Gleich zu Beginn
ihres "Klagegesangs" bringt Charlotte Warsen den Garten
Eden, das Paradies auf Erden, zusammen der Totenerweckung durch
den Propheten Elias ins Spiel, eine Utopie und eine Legende. Sie
machen das nachfolgende Finstre, Abstrakte, Unverständliche
des Textes im Adornoschen Sinne zugleich als "schwarze Kunst",
als Präsentation und Kritik der schlechten Wirklichkeit wie
als Statthalter der Utopie lesbar und erteilen zugleich der Utopie
und entsprechenden Fiktionen die Absage. In der Ästhetischen
Theorie Adornos, die 1970 postum herauskam und die Charlotte Warsen
etwa mit: "ihre Zeichen sind keine von etwas. Ihr Statthalter
ist das Finstere" zitiert, heißt es: "Um inmitten
des Äußersten und Finstersten der Realität zu
bestehen, müssen die Kunstwerke, die nicht als Zuspruch sich
verkaufen wollen, jenem sich gleichmachen. Radikale Kunst heute
heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz. Viel
zeitgenössische Produktion disqualifiziert sich dadurch,
daß sie davon keine Notiz nimmt, etwa kindlich der Farbe
sich freut. Das Ideal des Schwarzen ist inhaltlich einer der tiefsten
Impulse von Abstraktion" (ÄT 65) und "ihre Askese
gegen die Farbe negativ deren Apotheose" (ÄT 503). Und
"ihr Statthalter" - der Statthalter der Utopie nämlich
- "ist das Finstere" (ÄT 204). Hier knüpft
die Dichterin mit ihrem poetologischen Programm an: "zu erfinden,
dass es gut // werden wird, nein. // es wird nicht mehr gut."
Es geht ihr vielmehr darum, "Eden [zu] verringern, einander
[zu] verdunkeln", am "Labyrinth" zu bauen, eine
Klage nicht allein auszusprechen, das wäre affirmativ, sondern
sie kunstvoll zu singen: mit der eigenen Kunst mithin die Sprach-
bzw. Wahrnehmungsordnungen der herrschenden Zivilisation, nicht
ohne bösen Witz und Selbstironie, in Unordnung zu bringen.
Dazu findet und erfindet Charlotte Warsen, die auch Malerin ist,
künstlerische Verfahren der Verschiebung und Zerstäubung
des Sinns und außer in der semantischen auch in sämtlichen
anderen Kategorien der Sprache. Ihr "Klagegesang" ist
nicht allein ein sprachliches, sondern auch ein optisches Kunstwerk,
ein Simultanereignis. Souverän wahrt oder unterläuft
er die grammatische Ordnung des Satzes, die Regeln der Interpunktion
und die Definitionen des Lexikons. Er diffundiert den eindeutigen
Sinn von Äußerungen durch unerwartete Kontextualisierung
und macht ihre Grenzen zugleich erkennbar oder verwischt sie wie
die Grenzen jeder einzelnen sog. "Seufzergruppe". Am
augenfälligsten, und für Charlotte Warsen charakteristisch,
ist die Präsentation des Textes als eine Art Bild. Lückenhaft-flächig
sind die Wörter, einzeln oder in Gruppen und scheinbar willkürlich,
auf der Seite angeordnet, Bifurkationen in einigen Zeilen zwingen
dazu, auf zwei Wegen weiterzulesen. Damit ist die lineare Zeilen-
und Leseordnung punktuell für jede Form der Lektüre
außer Kraft gesetzt -, und spätestens hier erweist
sich der Klagegesang als Maßnahme zur Erweiterung oder Sprengung
der Begriffspaare Lyrik : Prosa', Text : Bild', Gesang
: Text' sowie Autor : Rezipient' und Denken : Wirklichkeit'
und der Geltungsbereiche der Einzelbegriffe. Mit ihrem schwarzgallig-finstren
"Labyrinth" provoziert Charlotte Warsen die Lesenden
zu unangepasst-kreativen, anstrengenden Lektüren. Sie lädt
die Lesenden ein, Co-Autor_innen zu sein, mit ihr "Eden [zu]
verringern, einander [zu] verdunkeln", das gesicherte Terrain
des Denk- und Sagbaren zu verlassen. Woraufhin? Das bleibt offen.
Liegt im Eröffnen eines Offenen, von dem nur gewiss ist,
dass es sich immer wieder schließen und in jedem Fall mit
dem Tod in unzählbaren Varianten endet, liegt in der Bewegung
der Negation, die zugleich etwas erschafft, das dem großen
Nein mit Sicherheit zum Opfer fällt, die der Klage der Dichterin
einzig verbleibende Utopie - die eigentlich so nicht mehr heißen
kann - und die einzige schwarzgallig-trotzige Möglichkeit
des Gesangs? Die 2500-jährige Geschichte dichterischer Klage,
die abendländische Tradition widerständigen Schreibens
aus Melancholie schreibt Charlotte Warsen mit ihren Seufzergruppen
fort: erfrischend, provokativ, selbstironisch, frech, mit einem
ihr ganz eigenen Gestus und Ton.
Susanne Schulte, GWK
Laudatio zum GWK Förderpreis 2016
JURY
Dr. Florian Höllerer, LCB-Literarisches Colloquium Berlin
Adrian Kasnitz, Parasitenpresse, GWK-Förderpreis
Literatur 2011, Köln Reto Ziegler, Edition Korrespondenzen,
Wien
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