Jeronimo
Voss
*1981 Hamm, lebt in Frankfurt
2003 – 2009 Studium Freie Bildende Kunst an der Staatl.
Hochschule für Bildende Künste Städelschule,
Frankfurt a.M. | 2002 Studium Kommunikationsdesign an der Gesamthochschule
Essen
In seinen Objekten und Installationen stellt Jeronimo Voss
Trugbilder aus historischen Trugbildern, vorgefundenen Medienbildern
und -texten sowie ausgewählten Kunstwerken her und macht
darin die Trugbilder und das Trugbildhafte unserer gegenwärtigen
Welt wie auch das Trügerische unserer Wahrnehmung kritisch
identifizierbar. Seine Ästhetik, Form und Inhalt seiner
Kunst, rekurriert auf eine revolutionäre Hypothese des
19. und eine revolutionäre Bildtechnik des 18. Jahrhunderts:
die Phantasmagorien der Schausteller im postrevolutionären
Paris und die Vielweltenvorstellung des Pariser Kommunarden
Louis Auguste Blanqui.
Die sog. Phantasmagorie, das öffentliche Phantasma oder
das Illusionsbild auf dem Marktplatz, das populär unterhielt,
ist die Ursprungsform des Kinos. Ein versteckter Illusionsapparat,
die Laterna Magica, projizierte Glasbilder auf Rauch. Die ersten
zeigten Portraits von Marat, Danton, Robespierre; als wabernde
Geistererscheinungen drohten die exekutierten Revolutionäre
mit Auferstehung.
In seinem Video "Phantasmagorical Horizon" weitet
Jeronimo Voss den Horizont des Phantasmagoriebegriffs im Ausgang
von einer Filmdokumentation der historischen Phantasmagorien
auf das Phantasmagorische überhaupt hin aus. Er findet
es in den zufälligen Lichterspiegelungen an den Fassaden
unserer Innenstädte. Aber er entdeckt es auch, wie das
Video seiner Projektion "In Dependent Gravity" zeigt,
in den Fassaden selber bzw. in den digitalen Architekturmodellen
von solchen Fassaden, die nichts sind als Fassade, nämlich
Fake oder Simulakrum. Als Neubauten imitieren sie, hier die
Fachwerkhäuser, die in der Frankfurter Innenstadt derzeit
errichtet werden, eine Bauweise, die tatsächlich der Vergangenheit
angehört, aber unseren Wunsch nach einer heilen Welt und
Beheimatung verkörpert, der ja auch die französischen
Revolutionäre wohl trieb. In seinem Video animiert Jeronimo
Voss ihre illusionistischen Modelle und zersprengt ihre Fassaden
nach dem Muster, das der andere Teil seines Films vorgibt, der
die Sprengung des letzten brutalistischen Hochhauses in der
Frankfurter City dokumentiert. All das wird mithilfe einer Phantasmagorieapparatur
projiziert, die, was man auf den zweiten Blick erst sieht, selber
Fake ist. Sie produziert mit den Mitteln der digitalen Projektion
die Illusion einer altmodischen Diaschau: eine Phantasmagorie
über eine Phantasmagorie, die als solche durchschaubar
sein soll. Etwas ist nicht das, als was es erscheint. Das heißt
auch, dass das, was ist, etwas anderes sein, dass Wirklichkeit
Möglichkeit sein und Möglichkeit Wirklichkeit werden
kann.
Hier schließt sich die zweite Quelle der Ästhetik
von Jeronimo Voss an, Blanquis kosmische Spekulation, dass jede
irdische Situation nur eine Variante ist von im unendlichen
Raum unendlich vielen Varianten dieser Situation. So gesehen,
ist alles, was möglich ist, auch real; so gesehen, regiert
keine Notwendigkeit das Weltgeschehen, ist alles möglich,
die Geschichte ist offen, die Welt ein Möglichkeitsraum.
Auch diese Möglichkeit erzählen die Phantasmagorien
von Jeronimo Voss.
Seine Arbeiten, vor allem seine Collagen, die nicht durch das
Überkleben von opaken Schichten entstehen, sondern mithilfe
von Bilderrahmen und transparenten Bildern auf Glas, durch die
das Licht fällt, sind zerbrechlich, leise, sensibel und
voller Poesie. Die Idee der Revolution, dass die Verhältnisse
anders sein können und die Welt, wie sie ist, nicht die
einzig mögliche ist, halten sie aufrecht, doch ohne und
gegen jedwede Attitüde von Gewalt, allein mit den illusionistischen,
wahrhaft aufklärerischen Mitteln der Kunst.
Jeronimo Voss ist ein hellwacher und engagierter Künstler,
der die phantasmagorische Realität und ihre falschen Versprechen
von Heimat und Glück und ihre Mittel, sie zu realisieren,
mit eben diesen Mitteln selbst kritisiert. Als Schausteller
dreht er weiter am Rad der Revolution. Den alltäglichen
Trugbildern stellt er seine reflektierten Phantasmagorien und
eine poetische Sensibilität entgegen, die als Mittel ihrer
Transformation und zugleich als das Woraufhin der Veränderung
verführerisch in den Blick kommt. Und warum sollten nicht
Sensibilität und Zartheit die neue Welt ermöglichen,
eine der Freiheit und Gleichheit, der Transparenz und Solidarität,
an deren Herbeiführung Revolutionäre scheitern mussten,
müssen? Ob auch sie ein Trugbild ist, entscheiden die Betrachterinnen
und Betrachter und jeder in seiner, und jede in ihrer Welt möglicherweise
anders.
Laudatio von Dr. Susanne Schulte zum GWK-Förderpreis
Kunst 2014, der Jeronimo Voss am 30.11.2014 in Bielefeld überreicht
wurde. Über die Preisvergabe entschied eine Fachjury, der
Sandra Dichtl (Dortmunder Kunstverein), Ben Kaufmann (Neuer
Aachener Kunstverein) und Thomas Thiel (Bielefelder Kunstverein)
angehörten.