Kevin
Vennemann | GWK-Förderpreis 2006
*1977 in Dorsten, lebt in Brooklyn/New York
Studium u.a. der Neueren Deutschen Literatur und Neuesten Geschichte
in Köln, Innsbruck, Wien, Berlin | seit 2009 Doktorand
in New York
wikipedia.org
In mythischer, ganz und gar bedrängender Gegenwärtigkeit
stellt Kevin Vennemann in seinem Romanerstling "Nahe Jedenew"
das fiktive Geschehen um die Ermordung einer jüdischen
Tierarztfamilie durch ihre katholischen Nachbarn kurz nach dem
Einmarsch der deutschen Truppen in Polen im Zweiten Weltkrieg
dar. Erzählt wird konsequent subjektiv, aus der Perspektive
der Todesangst, eines naiv gebrochenen Entsetzens. Die junge
Erzählerin hat sich in einem Baumhaus versteckt und beobachtet,
wie die Nachbarn bei ihr zuhause morden und brandschatzen; zwischendurch
erinnert sie sich an das Leben und die Geschichten in ihrer
Familie vor der nationalsozialistischen Wende. Kevin Vennemann
schreibt den Bewusstseinsstrom seiner Protagonistin und zieht
die Lesenden tief in ihn hinein. Seine Prosa lebt durch die
Sprache, einen originären, hochmusikalischen Vennemann-Sound,
in dem die Bedrohung Wirklichkeit wird, der Unmittelbarkeit
erzeugt und elektrisiert, aber das Grauen ästhetisch zugleich
aufhebt. Kevin Vennemanns Prosa lebt aus der Radikalität
ihrer Form. Zu einer einzigen, spannungsgeladenen inneren Gegenwart
ver-zahnt der Autor in kunstvoll sequenzierten Schnitten äußeres
und erinnertes Geschehen. Häufig hat letzteres Gesagtes,
Erzähltes zum Inhalt. Der Roman macht das Fluchtpotential,
aber auch die mythen-, identitäts- und wirklichkeitsstiftende
Macht des Sagens sowie des Erzählens erlebbar. Zugleich
stellt er den Verdacht, den das Lektürerlebnis provoziert,
und seine ethischen Implikationen für alles Sprechen zur
Diskussion: dass sich in den Handlungen wie Sprechhandlungen
nahe Jedenew anthropologische und mythologische Muster manifestieren.
Susanne Schulte
Laudatio zum GWK-Förderpreis 2006