Förderpreisträger Literatur  

Lars Reyer | GWK-Förderpreis 2013
*1977 in Werdau/Sachsen, aufgewachsen in Vreden / West­falen, lebt in Leipzig | Studium der Philosophie, Ethnologie und Anglistik in Münster | Künstlerischer Studiengang am Deutschen Literaturinstitut Leipzig

www.schoeffling.de/autoren/lars-reyer



© Foto: Ondrej Stanek

Lars Reyer wird für seinen Text "Falsche Kathedralen" ausgezeichnet, eine Art "polyfoner Fuge". Sie besteht aus zehn wie Einzelgedichte voneinander abgesetzten, doch fest miteinander verfugten und vernetzten, zehnzeiligen Strophen in freien Versen und einem sehr viel umfangreicheren Endnotenapparat, der sechzehn Prosaminiaturen umfasst.
Der Apparat ist integraler Bestandteil des einen Gesamttexts und kommt als erzählend-erläuternde Stimme aus dem Off zur Mehrstimmigkeit der Verse wie fremd hinzu. Er bricht ihr Lyrisches und grundiert es doch zugleich, erdet es sachlich in der realen Lebenswelt des Schriftstellers in, im Unterschied zum Gedichtteil, unmittelbar verständlichen, eindeutigen Worten – eine packende Form des Paratexts, die Lars Reyer für sich erfunden zu haben scheint. In seinen Anmerkungen behauptet er die Einheit von empirischem Autor, lyrischem Ich und dem Ich der Prosa, zieht aber im Gedichttext wie im Paratext die Wahrheit der Erinnerung und das Zeugnishafte vermeintlicher Dokumente, damit die Autorposition in Zweifel.
Zugleich behauptet sich der Autor in den Versen stark als lyrisches Ich, dezidiert sagt er "ich" und etwa "ich sage". Man erkennt, sein Gedicht selbst ist Lars Reyers Alternative zu den "toten Konstrukten" und "Leichenabgüssen" des Wirklichen, über die es zu Anfang spricht und die in bloßen Abbildungen des Vergangenen, Fotografien, Briefen wie auch in seinem Paratext zu finden sind. Damit aber ist das Gedicht auch als Alternative zu Schwermut und Sprachlosigkeit erkennbar, dem Lebensgefühl des adoleszenten Ich, selbst ein "totes Konstrukt" in einer westfälischen Kleinstadtidylle zu sein, die Geist, Herzen und Körper und die Sprache vertrocknet und zu Nichts zerstäubt oder alles zementiert – die jedoch für jene, die hinter dem Eisernen Vorhang lebten, dereinst Sehnsuchtsort war. Es ist dies "Es / gibt / mich / nicht" des Jugendlichen im westmünsterländischen Vreden (Familie Reyer wurde noch kurz vor der Wende aus der DDR ausgebürgert) mitsamt der erfolglosen Versuche, aus ihm auszubrechen ins Leben, in ein eigenes Ich – durch Punk, Hardcore, Emorock und elektronische Beats, durch Alkohol, Literatur, auch die Gedichte des Stadtlohner Dichters und Apothekers Erich Jansen, beim Träumen im Moor –, um das es in Lars Reyers langem Gedicht geht. Und um das Medium, in dem dies gelingt, indem in ihm das eigene Leben als lebendiges aufgehoben, zum Leben erhoben ist.
Es geht um die Überwindung von Sprachlosigkeit gerade vermöge der Sprache, in der und durch eine andere Sprache als jene, die man im Herkunftsland schweigt: vermöge der Sprache des Gedichts als einer "polyfonen Fuge". In ihr gelingt die ‚fuga‘, die Flucht aus dem Tot-Sein-bei-lebendigem-Leib, denn sie ist eben Fuge, in der Sukzession, Engführung und Mischung der Stimmen auf der Flucht vor semantischen und syntaktischen Festschreibungen hin in eine faszinierend vieldeutige und betörend tönende Vielstimmigkeit.
Lars Reyer hat Verse von berückender Präsenz und dunkler Schönheit und von großer evokativer Kraft geschrieben. Dem Kompositionsprinzip einer musikalischen Fuge vergleichbar, ruft er autobiografische Motive und Themen, starke und originäre Bilder und Szenen auf und fügt sie kunstvoll, rhythmisch, melodisch, spielerisch, auch der Dynamik der Sprache selber folgend, zusammen, verfugt sie so miteinander, dass ein einziger Signifikant mehrere Signifikate enthält und so Wortbedeutung und der Text als Gefüge in Bewegung bleibt. Entstanden ist eine einmalige, komplexe und paradoxe, atmosphärisch dichte Welt aus Sprache, welche die Realität, die sie darstellt oder darzustellen behauptet, als originäre subjektive innere Wirklichkeit allererst erschafft – und damit das "Es / gibt / mich / nicht" in der Gegenwart der Sprach-Fantasie, in Lebendigkeit, aufhebt.
Laudatio zum GWK-Förderpreis Literatur 2013
Susanne Schulte, Arnsberg, am 29. September 2013

Über die Vergabe des GWK-Förderpreises Literatur entschied eine Fachjury: Regina Dyck von der Hochschule Bremen, die das Internationale Literaturfestival Bremen „Poetry on the Road“ leitet, die Lyrikerin Dagmara Kraus, die 2010 den GWK-Literaturpreis bekam, sowie Michael Scholz, der das Internationale Literaturfest „Poetische Quellen“ in Bad Oeynhausen und Löhne verantwortet, und Hermann Wallmann, Vorsitzender des Literaturvereins Münster und Leiter des „Lyrikertreffens“ in Münster und des „Treffens in Telgte“. Der Literaturpreis wurde zusammen mit den GWK-Förderpreisen für Kunst und Musik am 29. September 2013 in Arnsberg verliehen.

 

 

 

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