Arnold Maxwill | GWK-Förderpreis 2016
*1984 am Niederrhein, lebt in Dortmund
Studium der Germanistik und der Kunstgeschichte in Wien und
Münster
Arnold Maxwill schreibt irritierende und spröde, in freirhythmischen
Versgruppen zu je drei Zeilen äußerlich fest gefügte
Gedichte. Sie prägt eine Haltung der Distanz und Rationalität
sowie ein spezifischer, analytisch-objektivierender Blick und
ein eigenständiger, bei starkem Einsatz der lautlich-musikalischen
Mittel der Sprache doch immer sachlich-nüchterner Ton.
Unter dem Obertitel verschränktes Gelände nimmt der
Lyriker in der Gedichtserie, mit der er sich um den GWK-Förderpreis
beworben hat, das aktuelle Dortmunder Stadtgebiet ins Visier:
einzelne Straßenzüge, Wohnsiedlungen, Brachflächen,
ein Areal ehemaliger Schwerindustrie, Parks, den renaturierten
Flusslauf der Emscher, den Dortmund-Ems-Kanal oder eine innerstädtische
Naturschutzzone -, kartierte Orte großstädtisch transformierter
Natur oder von Flora und Fauna durchzogener Zivilisation. Die
Gedichtüberschriften nennen das jeweils anvisierte Gelände
bei seinem Namen. Prominent in der Gedichtüberschrift "Hoeschlektüre",
aber auch in den Texten selbst, nennt der Autor das, was er
mit seinen Versen tut, "Lektüre": Er liest das
"verschränkte Gelände" dort draußen,
sein Gedicht ist eine Lektüre der Außenwelt, nicht
deren bloß dokumentarisches Abbild in gewöhnlicher
Sprache, sondern deren deutende Transformation. Entsprechend
sind die benannten Dortmunder Orte im Text auch nicht wiedererkennbar.
In poetologischer Lesart wird durch die Überschrift "Hoeschlektüre"
jedes Gedicht selbst zu einem "verschränkten Gelände",
das "Lektüren" im Sinne des Autors fordert. Arnold
Maxwill rekurriert mit dem Wort "Lektüre" und
in mit diesem verwandten Signifikanten auf geschichtlich wirkmächtige
Ideen. Er ruft mit ihm den christlich-romantischen Topos von
der Lesbarkeit der Welt auf bzw. das Konzept einer Sprache oder
Schrift der Natur. Danach wohnt den Naturdingen eine aus dem
göttlichen Logos fließende Sprache inne, die sich
in ihrem Äußeren als oder wie eine Schrift artikuliert
und dadurch das innerste Wesen der Dinge objektiv offenbart.
Sie ist Voraussetzung und Grundlage der menschlichen Sprache
und muss von den Menschen, die qua Lektüre ins Innerste
der Welt einzudringen hoffen, gehört und gelesen und in
Menschensprache übersetzt werden. Diese Hoffnung allerdings
erfüllt sich, selbst für die Inspirierten, nie. Andernorts
bringt Maxwill Verwandtes, Säkulares, ins Spiel: die medizinisch-alchemistische
Signaturenlehre, die besagt, dass sich in seinen äußeren
Merkmalen, "Signaturen", das substantielle, innere
Wesen eines Dings offenbart und sich in ihnen sein innerer Zusammenhang
mit anderen Naturdingen sowie seine Wirkung auf diese ausdrückt.
Auch die Signaturen müssen von Kundigen gelesen werden.
Doch der Lyriker bezieht sich auf diese logozentrischen Konzepte,
die auf dem Dualismus von Innen und Außen, Kern und Gehäuse,
eigentlichem Wesen und kontingenter Erscheinung, beruhen und
bis in die Moderne die Naturlyrik durchdrangen, um ihnen abzusagen
- und dennoch die Tradition zugleich fortzuschreiben aus der
aufgeklärten Perspektive des Städters des 21. Jahrhunderts.
Denn eine subjektivistische Ausdrucks- oder Erlebnislyrik, die
die Außenwelt vollkommen in das lyrische Ich' hineinzieht,
lehnt er durch den evidenten Rekurs auf die "Lektüre"-Tradition
implizit gleichfalls ab. In und aus seinen Gedichten ist, versteht
man sie poetologisch, zu lesen, dass für den Dichter Arnold
Maxwill seine Lektüre des Dortmunder Geländes "eine
Art / von Abbruchmanagement" ist, "abgezuppt &
anarchistisch" (Gebietsentwicklung), Dekonstruktion der
Tradition und als solche "Gebietsentwicklung" im Gelände
der Lyrik. Seine "Lektüren" lesen, beziehen sich
auf sinnlich erfassbare Oberflächen, Sichtbares und Hörbares.
Analytisch, an den heutigen Methoden und der Sprache der Naturwissenschaft
geschult, durch die Reflexionen der Linguistik und Philosophie,
durch die Literatur und die Literaturgeschichte hindurchgegangen
und gewiss im Wissen um das schwermütige Scheitern der
Kollegen, die vordem im vormodern-hermeneutischen Sinn die Welt
lasen, entwickelt der Dortmunder Dichter seinen ganz eigenen
Ansatz, den selbst "Konzept" zu nennen er jedoch zurückweist
("Konzepte? nein", Gebietsentwicklung). Er legt "Sichtfelder"
im Gelände fest und übersetzt diese ins Gedicht in
einer ihm eigentümlichen, abstrakten, Strukturen, Elemente,
Zusammenhänge und Bewegungen, bisweilen objektale Konstruktionen
nüchtern, hart bis schroff und nominal benennenden Sprache.
Im Gedicht reflektiert er zudem den Wahrnehmungsvorgang als
solchen, als ein unauflösliches Ineinander, ein "verschränktes
Gelände", von komplexen, bei allen Menschen gleichen,
physiologischen Prozessen und kulturell-einzelsprachlich vermittelten
Operationen, die von den konkreten Gegebenheiten von Subjekt
und Objekt abstrahieren ("Roggen für jede Retina":
Auf dem Brink). Doch wird durch dieses Vorgehen nicht ein Inneres
geleugnet, die Welt und das Ich überhaupt auf Oberflächen
und bloße Physis reduziert, die äußere Natur
und der Mensch selbst auf ein manipuliertes "Gelände".
Arnold Maxwill scheint vielmehr ein unsagbares freies Inneres
und eine freie Natur negativ abzustecken und in seinem Gegenteil
Zeichen dieses Anderen auszumachen, eines äußeren
"offenen Geländes" (Auf dem Brink) und eines
natürlichen Innenraums: "so / bleibt der Innenraum
schön unmarkiert." (Bereitschaftsfläche). Hier
und da scheinen in seinen Texten, auch im Wortfeld des Fließens,
mit der Möglichkeit, dass sich alle Sichtfelder durch das
deregulierende (vgl. Verschiebung) und anarchische Wirken der
Natur, die auch der Mensch ist, ändern und mit der subjektiven
Möglichkeit auch des Dichters, all seine Sichtfelder zu
re-vidieren -, hier und da scheinen in seinen Gedichten die
Verschränkungen' sich zu lösen und sie selbst
sich und die Lesenden zu öffnen auf das, was damit als
das Kostbarste und Schönste erkennbar wird. So schließt
Hoeschlektüre offen und ohne Punkt: "was sich meldet
trotz Schorf & / Schrunden: Sanftheit; feuchte Re- / visionen.
- Unterkunft, innerhalb"
Susanne Schulte, GWK
Laudatio zum GWK Förderpreis 2016
JURY
Dr. Florian Höllerer, LCB-Literarisches Colloquium Berlin
Adrian Kasnitz, Parasitenpresse, GWK-Förderpreis
Literatur 2011, Köln Reto Ziegler, Edition Korrespondenzen,
Wien