Yulia
Marfutova | GWK-Förderpreis 2017
*1988 in Moskau, lebt in Münster,
studierte Germanistik und Geschichte in Berlin
Yulia Marfutova beherrscht die Kunst des Erzählens und
ragt als ganz eigene Stimme unter den jungen Romanciers hervor.
Ihr erster Roman "Das Röhrchen" - für einen
Auszug aus dem Manuskript wird sie heute ausgezeichnet - entwickelt
einen Lesesog, dem man sich kaum entziehen kann. Souverän
stellt sich die Schriftstellerin in die Tradition der großen
Erzähler des 19. und 20. Jhs. und inszeniert, vor dem Hintergrund
der russischen Oktoberrevolution und "am abgelegensten,
am vergessensten Ort" des untergehenden Zarenreiches, den
Konflikt zwischen der überlieferten Lebens- und Wissensform
des Aberglaubens und dem neuen, den Dörflern fremden Paradigma
der naturwissenschaftlichen Moderne. Von Fabulierlust getragen,
durchdrungen von der Freude an inneren Bildern und der Musik
der Sprache, erzählt sie jedoch nicht realistisch-nachahmend,
sondern allegorisch-erfindend. Dabei ist alles, auch dort, wo
der Text abzuschweifen und in Details auszuufern scheint, bezogen
auf das Experiment, das er darstellt, und ein unverzichtbares
Moment der großen Metapher. Diese erlangt, obwohl die
Erzählung historisch konkret situiert ist, überzeitliche
Allgemeingültigkeit und eine fast mythische Dimension.
Humor, an der romantischen geschulte Ironie, prägt die
Erzählperspektive. Wohlkalkuliert ist der Bogen, den jeder
einzelne Absatz inhaltlich und vermöge des Satzbaus spannt,
das Spiel mit Rhythmus, mit Klang. Gekonnt die Reduktion und
Zeichnung des Romanpersonals, die Wechsel von Innen- und Außenperspektive,
die Indirektheit der mündlichen Rede, wie die Autorin Erzählerkommentare
einstreut, sie als solche oft verschleiert. Und immer schaut
sie ohne zu moralisieren auf ihre uns befremdlichen Figuren,
ausdrücklich auch auf ihr Reden, ihr Marktgeschwätz,
ihr Erzählen. Darin aber reflektiert sie auch das Erzählen
überhaupt - und erzählt seine nach wie vor lebendige
Quelle: Geschichten werden gegen die Ohnmacht erfunden, aus
Angst und gegen die Furcht; gegen die Furcht vor dem Fremden
und seinem verlockenden Zauber, vor dem Unbegriffen-Unbegreiflichen,
das war und das ist; gegen die Angst vor dem, was kommen könnte,
das die eigene Phantasie erzeugt oder das durch die große
Geschichte und die Gewalt der Natur einem Menschen droht.
Geschichten setzen dort ein, wo Wissen versagt ist und Wissen
versagt. Sie scheinen auch für Yulia Marfutova ein Gegenzauber
und mythischer Rest in wissenschaftlich rationaler, auch Geschichte
und Zukunft nach Art eines Naturgesetzes begreifenden Zeit zu
sein, der not-wendig und lebenswichtig ist, weil mit unserm
Wissen auch das Wissen um unsere Unwissenheit wächst. Es
ist eine aufgeklärte Magie, die uns die Dichterin offeriert
und die uns weiterhilft, wenn und weil "Röhrchen"
zerbrechen und die Revolutionen, wie Saturn, ihre eigenen Kinder
fressen.
Susanne Schulte, GWK
Laudatio zum GWK Förderpreis 2017
JURY
Klaus Schöffling Verlag Schöffling & Co., Frankfurt
a. M.
Dr. Jan Skudlarek GWK-Förderpreis 2008, Berlin
Hermann Wallmann Literaturverein Münster