Dagmara
Kraus | GWK-Förderpreis 2010
*1981 in Breslau, aufgewachsen in Lippstadt, lebt in Leipzig
Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft
und Kunstgeschichte in Leipzig, Berlin und Paris | ab 2009 Dissertationsprojekt
in Genf und Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig
www.poetenladen.de/dagmara-kraus.htm
Die Lyrikerin Dagmara Kraus ist polyglotte Philologin, eine
so sprachgläubige wie sprachskeptische Liebhaberin des
Wortes. Sie kennt seine Magie, welche Musik ist und Rhythmus
und Welten erschafft; zugleich weiß sie um's Prekäre
allen Mitteilens und Benennens. Was wissen die Wörter über
die Welt? So offenkundig wie implizit ist das Problem der Bedeutung
und des Weltbezugs oder Inhalts der Wörter, sind sprachliche
Welterkenntnis und Kommunikation –: ist das Medium "Sprache"
das Generalthema ihrer Gedichte. Es vermittelt sich durch deren
Schwer- bis Unverständlichkeit, nicht über ausdrücklich-direkte
Reflexionen der Autorin. Nichtverstehen ist hier die Normalsituation
des Rezipienten. Dabei schreibt Dagmara Kraus deutsch, befolgt
zumeist die Muster der deutschen Grammatik und Wortbildung.
Doch trotzdem verstehen sich ihre Texte nicht von selbst. Kühn
montiert die Lyrikerin geläufige Wörter zu sperrigen,
manchmal humorigen und ironischen Metaphern, bildet sie Ableitungen,
die grammatisch korrekt, aber im Lexikon nicht vor-geschrieben
sind. Sie benutzt Fachsprachen, veraltete Wörter, Fremdwörter
und Fremdsprachen, Topoi humanistischer Bildung wie auch hier
und da mal erfundene Signifikanten. So wirkt der deutsche Text
fremd wie ein fremdsprachiger Text und zwingt die, die verstehen
wollen, zur Lektüre jener Wörterbücher, die auch
die Autorin beim Dichten benutzte. Ob sich jedoch dann ihr Gedicht
und mit ihm die Welt sich erschließt, steht dahin. Denn
die Wörter verweisen auf andere Wörter und Bücher,
diese wieder auf wieder andere, diese Wörter auf Wörter…
Eine Sprache der Natur, in der Wort und Ding, Erkenntnis und
Bedeutung zusammenfielen und die den Definitionsregress ins
Unendliche stoppte, ist nirgends greifbar. Der Mythos von Babel
liefert auch bei Dagmara Kraus das Denkbild dazu. Die "Unbeitreiblichkeit
der Sterne, der Toten" (Gedicht: "Brandwache")
ist so sicher wie Gedichte "Verseluch" (Gedicht: "Schieberlist")
sind und "Raubkapital" (Gedicht: "lieber lichtpausen"):
Übersetzungen von Sprache in Sprache. Intellektuell und
kalkuliert, klangmächtig und rhythmussicher, magisch inszeniert
die Lyrikerin die Unfähigkeit der Sprache, die Welt zu
begreifen, und insistiert doch, indem sie schreibt, darauf,
dass Verstehen möglich sein müsste mit ihr. Das reflektiert
ihre ureigne Metapher für ihr Tun: "ich kratikuliere"
(Gedicht: "lieber lichtpausen"). Mithilfe eines Gitternetzes
mithin, mithilfe von Lexikon, Grammatik und Morphologie, überträgt
sie Wörter in Worte, Wörter für Welterfahrung
in andere Wortkomplexe. Was entsteht ist "cratis",
sind "craticulae", Geflecht und Flechten, kunstvoll
zarte, kleine Artefakte, die wie Natur sein sollen, die aber
Übersetzungen sind, denen das Paulinische "Hos-me"
ein-geschrieben ist: Wirklichkeit und Bedeutung besitzen sie
so, als ob sie sie nicht besäßen –, denn sie
besitzen sie faktisch nicht. Lyrische Artikulation als "Kratikulation":
das ist selbst-bewusstes Sprechen als Spiel mit dem Zauber der
Sprache und der Versuchung der Kapitulation vor ihr.
Susanne Schulte
Laudatio zum GWK-Förderpreis 2010