Im
Rahmen des Magus Tags Münster 2011 erhielt der österreichische
Dichter Franz Josef Czernin den mit 4.000 Euro dotierten "Magus-Preis"
der GWK. Der Preis wurde erstmals vergeben. Er zeichnet die
Antwort Czernins auf die 1. Magus-Preisfrage aus, die die GWK
im gesamten deutschen Sprachraum unter Schriftstellern und Wissenschaftlern
ausgeschrieben hatte.
"Ohne Wort, keine Vernunft – keine Welt".
Unter diesem Diktum Hamanns haben die 1. Magus Tage Münster
2010 aus unterschiedlichen Perspektiven nach dem Zusammenhang
von Sprache und Denken gefragt. Die 1. Magus-Preisfrage fokussierte
die Frage nach dem Zusammenhang von Denken und Sprache auf die
Poesie. Kurz umrissen lautet sie folgendermaßen: Inwiefern kann
poetische Sprache heute Instrument und/oder Medium eines Denkens
und Fühlens sein, das ohne sie weder möglich noch mitteilbar
wäre? Ausgeschrieben war die Magus-Preisfrage folgendermaßen:
"Sowohl von der gewöhnlichen Sprache des Alltags als auch
von den Fachsprachen der Wissenschaften und der Technik unterscheidet
sich poetische Sprache. Angenommen, jeder dieser Sprachtypen
repräsentiert und ermöglicht eine je spezifische Weise des Denkens
und der Wahrnehmung der Welt: was und wie erkennt die poetische
Sprache anderes oder anders als jene Sprachen, in denen wir
uns im Alltag und in den Wissenschaften mit der Welt, uns selbst
und anderen verständigen, in denen wir unsere gewöhnlichen bzw.
experimentell gesteuerte Erfahrungen machen, erfassen, kommunizieren?
Wenn verschiedenen Sprachformen je besondere Formen des Denkens
und Wahrnehmens zugehören, wie bestimmt sich poetische Vernunft
und das Denken und Wahrnehmen der Poesie? Inwiefern kann eine
poetische Sprache Instrument und/oder Medium eines Denkens und
Fühlens, einer Erkenntnis- und Erfahrungsform sein, die ohne
sie weder möglich noch kommunizierbar wäre? Und wie wäre eine
genuin poetische Denkform – auch im Unterschied zu anderen Formen
ästhetischer Erfahrung – zu charakterisieren? Wie kann heute
sinnvoll von poetischer Vernunft gesprochen werden?"
175 Antworten von Schriftstellern, Journalisten
und Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich, der Schweiz
und anderen europäischen Ländern gingen bei der GWK ein. Die
Wettbewerbsbeiträge wurden für die Jury anonymisiert. Die Juroren
Dr. Thorsten Ahrend, Lektor des Wallstein Verlags in Göttingen,
Katharina Hacker, Schriftstellerin (Berlin), Prof. Dr. Eva Kocziszky,
Germanistin (Budapest, Köln) und Dr. Peter Waterhouse, Schriftsteller
und Germanist (Wien) sprachen Franz Josef Czernin für seinen
Beitrag „AESTHETICA. IN. NUCE. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer
Prose – und ein dialogischer Widerhall“ den 1. Magus-Preis zu.
"AESTHETICA. IN. NUCE. Eine Rhapsodie
in Kabbalistischer Prose – und ein dialogischer Widerhall"
inspiriert sich vorwiegend an Hamanns wirkmächtiger Schrift
"AESTHETICA. IN. NUCE. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer
Prose" (1762) und, weniger prominent, an brieflichen Bemerkungen
Hamanns. In der Ausschreibung war nicht verlangt, dass die Antworten
sich auf Hamann beziehen. Ob ein Text das tat oder nicht, war
demzufolge auch für die Jury kein Qualitätskriterium. Dass Sie,
lieber Herr Czernin, sich dennoch direkt auf einen Schlüsseltext
Hamanns beziehen, spricht, so glaube ich, für die Produktivität
einer Auseinandersetzung mit Hamann noch heute.
Franz Josef Czernin legt in seiner Preisantwort
Hamann nicht aus, sondern denkt dem "Magus" nach und
mit ihm (und anderen) weiter. Sein "dialogischer Widerhall"
gliedert sich in elf Kapitel. Der Text besteht aus ausgewählten
Kurzzitaten Hamanns, Kernsätzen seiner Ästhetik, die jeweils
ein Kapitel quasi überschreiben bzw. hier und da auch in den
Text eingestreut sind und die, so herausgehoben, aphoristischen
Charakter erhalten, und aus 173 Aphorismen Czernins selbst.
In ihnen sind Denken, Fühlen und Dichten, sind Literatur, Philosophie
und Leben untrennbare Einheit. Das macht das Faszinierende und
Provozierende dieser Preisantwort, neben dem hohen Reflexionsgrad
des Gedachten und der Tiefe des sinnlich und seelisch Gefühlten
selbst, aus. Denn der Dichter spricht nicht allein über eine
mögliche poetische Vernunft, er bestimmt eine genuin dichterische
Denkform, genauer: eine ganzheitliche Erfahrungsform nicht diskursiv,
sondern er redet in und aus poetischem Erfahren selbst – und
verlangt durch diese Textform zugleich, dass seine Rezipienten
ihrerseits sich auf eben diese Erfahrungsform einlassen. Franz
Josef Czernin tut mit seinem Text das, worüber er redet: Er
spricht über Dichtung dichterisch und macht damit die wohl wichtigsten
Konstituenten der Dichtung, ja die poetische Erfahrung selbst,
für den Leser sowohl sachlich reflektierbar als auch, und das
in erster Linie, am eigenen Leib bewusst erfahrbar. Und seine
Form der Auseinandersetzung mit dem Thema erscheint zwingend.
Der Text packt und zieht uns, jedenfalls ging es der Jury so,
zum Mitvollzug in sich hinein und wirbelt unser Denken durcheinander.
Denn hier werden in lakonischen Geistesblitzen keine letztgültigen
Antworten gegeben, die man als sicheres Wissen davon, was Dichtung
und eine poetische Vernunft denn seien, quasi unter den Arm
nehmen, zu den Akten legen und abhaken kann. Franz Josef Czernins
„dialogischer Widerhall“ stellt uns die Poesie nicht als objektiv
definierbare Sache gegenüber. Sein Text ist vielmehr ein lebendiger
Prozess, in dem diverse Bestimmungsmomente von Poesie aufblitzen,
aus unterschiedlichen Perspektiven kurz beleuchtet, spielerisch
ausprobiert werden und wie ein Echo sich zugleich entfernen
und weiterhallen.
Viele Themen sind mehrstimmig angestoßen.
Es geht etwa um Mehrdeutigkeit und Dunkelheit, das Verhältnis
von Ausgesprochenem und Ausgespartem, Verschwiegenem, Ausgelassenem,
um Körper und Wort, um Metaphorik und Wörtlichkeit, Bild und
Abbild, um die Struktur des Wortes, seine Lautform und seine
Buchstabenform, seinen Bezug zur Welt, um Denotation und Konnotation,
um Logik und Paradox, Gedicht und Geschichte, Poesie und die
Toten, das Ganze und seine Teile, um’s Übersetzen, um Schönheit
der Sprache, es geht um das Spannungsfeld "Wissenschaft
– Alltag – Poesie", das Verhältnis von Form und Inhalt
einer Aussage, die Beziehung zwischen dem Sprecher und seiner
Rede, dem Autor und seinem Text, dem Text und seinen Leserinnen
und Lesern, um Subjektivität und Objektivität.
Franz Josef Czernins "dialogischer Widerhall" schafft,
historisch bewusst, im Bezug auf Hamann und andere Vorläufer,
neue und zeitgemäße Räume des Widerhalls. Seine Preisantwort
ist Dichtung als Prozess, als subjektiver Prozess, der sich
als konstitutiv subjektiv und als bewusst subjektiver Prozess
reflektiert. Er tut dies so poetisch, dass dieser Prozess in
den Köpfen und Körpern der Rezipierenden – so frei wie Hamanns
"AESTHETICA. IN. NUCE" in Czernins Text – nachhallt
und in den Rezipierenden Prozesse freisetzt, in denen sie genau
das an sich selbst erfahren können, wovon der Text redet und
was er ist: Dichtung. Oder mit zwei Aphorismen Franz Josef Czernins
selbst: "Apfel: Ein Zusammenhang, den du nicht herstellen
kannst, erzeugt eine endlose Reihe von solchen, die du herstellen
solltest." Und mir scheint, der Magus-Preisträger kommt
mit seinem Text nicht nur jenem Willen nach, den er als das
Als-ob der Poesie an einer Stelle ausspricht, sondern er erzeugt
das Gewollte selbst tatsächlich, nämlich bezogen auf das poetische
Nachsinnen über Dichtung und über seinen Text, im echten Leben:
"Als wollte die Poesie den wirklichen Sturm in ihrem Wasserglas
erzeugen."