Marcel
Dickhage | GWK-Förderpreis 2012 (mit C.Schuster)
*1977 Herdecke
2001 - 2006 Studium Grafikdesign und Fotografie an der Hochschule
Wismar | 2006 - 2009 Studium an der Hochschule für Grafik
und Buchkunst Leipzig bei Prof. Heidi Specker und Eiko Grimberg
www.titreprovisoire.de
Cathleen Schuster und Marcel Dickhage machen engagierte Kunst
im besten Sinn. Sie bauen Installationen mit Videos, die problematische
Aspekte der Wirklichkeit dokumentieren, Installationen, die
auf der Ebene des Films sowie durch die Präsentation des
Films im Kunstraum zugleich das Dokumentarische selbst reflektieren.
Im Zentrum der Bewerbung von Schuster/Dickhage um den GWK-Preis
stand die zweiteilige Video-Installation "Following the
line of arguments". Darin gehen die Künstler den Auswirkungen
der globalisierten Arbeitswelt auf das Individuum und deren
Abbildung in den Medien am Beispiel eines Nokia-Werkes im rumänischen
Cluj nach. Die Fabrik war von Bochum nach Rumänien verlegt
worden – und während der Dreharbeiten wurde ihre
Schließung und die Verlagerung der Produktion nach Hanoi
publik. Für den vierminütigen Film "POI"
– der Titel der Arbeit, ein gängiges Akronym der
Navigationssysteme für "Point Of Interest", ist
nicht ohne bittere Ironie zu lesen – haben die Künstler
das Nokia-Werk im Auto umkreist und dabei gefilmt. Das Video
ohne Ton ist als Endlosloop auf eine mit Gerüststangen
prekär abgestützte, mannshohe MDF-Platte projiziert.
Wie provisorisch ist sie schräg im Raum aufgestellt. Ein
wenig dahinter befindet sich auf dem Boden ein Fernsehgerät,
auf dem das Video "Strada Fabricii" läuft, betitelt
nach dem noch aus kommunistischer Zeit stammenden Namen der
Straße entlang der ehemaligen Fabriken in Cluj, wo auch
das Nokia-Werk steht. Nach Umrundung der Handyfabrik fuhren
die Künstler die Straße um das Werk weiter und filmten
den Straßenzug mit hinter der Frontscheibe fest installierter,
quasi-objektiver Kamera ab: eine öde und triste, ruinöse,
arme, anonyme Szenerie. Der Film ist auf sieben Minuten geschnitten
und nicht mit einem O-Ton unterlegt, sondern aus dem Off erklingt,
ohne jede Atmo und nach-dem der Film einige Sekunden stumm angelaufen
ist, wie aus dem Nichts die markante Stimme einer Frau mit rumänischem
Akzent. Die Erzählerin rückt in den Vordergrund, gewinnt
eine stille Präsenz und evoziert darin alle Arbeiterinnen
der Fabrik. In Ich-Form und aus der Perspektive derer, die die
Straße entlangfährt, in der Rolle der Autorin mithin,
die versteht, was sie sieht, kommentiert und reflektiert sie
die Geschichte der Straße. Doch der Unterschied von Sprecherin
und wirklichem Autorenpaar Schuster/Dickhage, das den literarischen
Filmtext verfasst hat, bleibt bewusst, so dass mit der Stimme
nicht nur die weibliche Beleg-schaft der Fabrik präsent
ist, sondern zugleich die Qualität der Zeugenschaft der
wirklichen Autoren in Rede steht. Das Dokumentarische gibt sich
als subjektive Interpretation, wie jeder Blick auf Wirklichkeit
subjektiv ist, auch der, in dem das, was der Film zeigt, als
schmerzhafte Metapher eines schmerzhaften Globalisierungsprozesses
erscheint. Der verkauft sich als Fortschritt und Entwicklung,
hinterlässt aber tatsächlich Ruinen, Ödnis, Depression,
bevor die "Kette der Argumente" die Produktion weiter
treibt gen Osten – bis sie eines Tages im Westen wohl
wieder ankommt. Die "line of arguments" wird als Zirkel
erkennbar so wie die Videos Endlosloops sind und der Kreis darin
ein wiederkehrendes optisches und bildstrukturelles Moment ist.
Was auf dieser Linie als nachhaltig gilt, wird schon über
die Art der Präsentation der Arbeiten im Raum als instabil
und ephemer erkennbar. In "Following the line of arguments"
machen Schuster/Dickhage die Logik lediglich profitorientierter
Produktion und ihrer Vermarktung als Entwicklung und historischer
Fort-schritt ästhetisch hinterfragbar: als verheerende
Scheinlogik und Ideologie. Globalisierung erscheint als das
Kreisen der Arbeit um den Globus herum, Geschichte als Kreislauf,
ein Loop immer derselben, im Off aus-tauschbaren Geschichten
von Aufbruch und Abbruch, Versprechen und Kollaps, erst Not,
dann Auskommen, dann wieder Not. Die Installationen dokumentieren
nicht allein das, was sie vordergründig im Bild als subjektive
Wirklichkeit zeigen, sondern sie sind Dokumente einer durch
sie sichtbar gemachten Struktur menschlichen Handelns. In einem
jeden vermögen sie Fragen aufzuwerfen: Was ist "in
Wirklichkeit" der Gewinn unserer Produktionsform und für
mich der Gewinn meiner Arbeit – und wie mache ich mir
"in Wirklichkeit" Bilder von dem, was wirklich ist?
Susanne Schulte
Laudatio zum GWK-Förderpreis 2012
Die Jury des GWK-Kunstpreises 2012 bildeten Dr. Jens Kastner,
der an der Akademie der Bildenden Künste Wien unterrichtet,
die Ausstellungsleiterin der Flottmann-Hallen in Herne, Jutta
Laurinat, sodann der Leiter der Neuen Sächsischen Galerie
in Chemnitz, Mathias Lindner, und die Berliner Künstlerin
Antonia Low, die 2009 mit dem GWK-Kunstpreis ausgezeichnet wurde.
Außerdem wirkten der Leiter des Bielefelder Kunstvereins,
Thomas Thiel, und der Berliner Künstler und Kurator des
Kunstvereins Arnsberg, Vlado Velkov, mit.